Prägung

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tarsshaft
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Prägung

Beitrag von tarsshaft »

Hallo zusammen,
es gibt ein Thema, das ich gerne mit euch diskutieren möchte: Prägung. Meine Mutter trennte sich von meinem Vater, als ich 8 Jahre alt war. Mein Bruder und ich zogen mit meiner Mutter und ihrem neuen Partner in eine andere Stadt. Folglich hat nicht mein leiblicher Vater, sondern ein fremder Mann mit mir unter einem Dach gelebt in einer Zeit, in der wir Menschen geprägt werden: in der Kindheit und Jugend. Nun unterscheidet sich mein Stiefvater äußerlich wie charakterlich sehr von meinem Vater. Mein Vater ist sehr kräftig, mein Stiefvater sehr schmächtig. Mein Vater ist sehr ruhig, mein Stiefvater sehr hektisch. Soweit kurz zusammengefasst. Da mein Vater mein leiblicher Vater ist, habe ich von ihm die genetischen Anlagen, die mein Wesen ausmachen. Nun musste ich aber mit einem Menschen aufwachsen, der meinem eigentlichen Wesen ziemlich widerspricht, da nun eben mein Vater und mein Stiefvater sehr unterschiedlich sind. Ich merke heute, dass ich Verhaltensweisen angenommen habe, die mir mein Stiefvater vorgelebt hat – allen voran die Hektik und das „Es muss noch schneller gehen“ als Lebensmotto. Andererseits bin ich vom Charakter her ein eher ruhiger Typ, eben so wie mein Vater. Ich habe also vorgelebt bekommen, dass „Hektik“ „richtig“ ist, schließlich hatte mein Stiefvater Vorbildfunktion. Das widersprach aber dem, was ich eigentlich gespürt habe, nämlich das Ruhige, Langsame.

So wie das Beispiel „Hektik“ contro „Ruhe“ gibt es viele Beispiele in meinem Leben, die alle bedeuten, dass ich in der entscheidenden Phase meines Lebens, in der Prägephase, ständig etwas vorgelebt bekam, das mir selbst widersprach, das ich aber dennoch angenommen habe. So stand und stehe ich täglich vor einem Kampf mit mir selbst, in dem das eigentliche Wesen mit dem geprägten Wesen ringt.

Ich möchte aber so sein, wie ich bin. Ich möchte nicht so sein, wie ich geprägt wurde. Vorallem, weil ich von einem Mann geprägt wurde, den ich überhaupt nicht ernst nehmen kann und der in meinen Augen alles andere als eine Vorbildfunktion hat.

Kann man denn Prägung abschütteln? Kann man sie überwinden? Es scheint mir, als versuchte ich dies schon mein ganzes Leben. Unbewusst. Weil eben das, was in mir angelegt wurde, dem widerspricht, was in mir angelegt ist.

Kann man Prägung loswerden? Überwinden? Verarbeiten? Oder ist sie eingebrannt in meinen Charakter, weil sie eben in einer Phase meines Lebens vorgenommen wurde, in der ich keine Wahl hatte.

Was meint ihr?

Danke für euer Feedback, lg tarsshaft
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Bolz
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Re: Prägung

Beitrag von Bolz »

Hallo Du,

das stelle ich mir wirklich kompliziert vor, wenn man das Gefühl hat anders zu sein als man eigentlich sein würde oder sein will.

Aber auf der anderen Seite denke ich, dass uns viele Menschen im Leben prägen und laut neuesten Studien sollen die Eltern gegenüber Freundschaften zu Gleichaltrigen gar keinen so großen Einfluss haben, wie man vermuten könnte. Ein wesentlicher Teil unserer Denkweise und unseres Verhaltens wird demzufolge von unserer gewählten Umgebung und nicht durch Abstammung geprägt.

Wie dem aber auch sei, obliegt es in erster Linie Dir, Dein Verhalten zu steuern. Wenn Du also das Gefühl hast, z.B. hektischer zu sein als Du wärest, wenn Du mit Deinem leiblichen Vater aufgewachsen wärst, dann hast Du doch schon mal den ersten Schritt getan, indem Du feststellst, was Dich stört. Der zweite Schritt ist, einen Plan aufzustellen, wie Du das ändern kannst. Das können Erinnerungen und Zeitangaben für Dich selbst sein, um Dich selbst z.B. bei einem Moment in dem Du in Hetzte gerätst daran zu erinnern, es ruhiger angehen zu lassen. Nach einer Weile gehen Dir auch neu erlernte Verhaltensweisen in Fleisch und Blut über und Du änderst, was Dich an Dir selbst stört.

Sicher hat Deine Mutter oder ein lieber Freund auch Eigenschaften an sich, die Du nicht so toll findest und da denkst Du ja auch nicht drüber nach, warum Du sie angenommen, oder nicht angenommen hast. Ich kenne da einen schönen Satz: Wenn man jemanden mag, kann er einem einen heissen Teller Suppe über den Schoß schütten, wenn man jemanden nicht mag, stört es schon, wie er den Löffel hält.

Gruß und viel Erfolg
Bolz
tarsshaft
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Re: Prägung

Beitrag von tarsshaft »

Hallo Bolz,

danke für deine Antwort. Sie hilft schon.

Natürlich hast du Recht, dass ich nun, da ich erwachsen bin, mein Verhalten bewusst beobachten und gegebenenfalls ändern kann. Ich stelle auch zum Beispiel fest, dass ich wieder einmal in Hektik verfalle, die mich letztlich vollkommen blockiert und ich dann am Ende gar nichts tue. Mein Problem ist, dass ich diesen Kreislauf von Festellen-Andersmachen-wieder Feststellen-wieder Andersmachen eben nicht durchbrochen kriege. Mein Problem ist mein automatisches, geprägtes Verhalten, meine quasi automatisierten Herangehensweisen, die mir immer erst im ZWEITEN Schritt bewusst werden. Ich bekomme dieses Automatische nicht heraus. Jetzt habe ich auch noch gelesen, dass Prägung etwas ist, das sich in uns einbrennt und irreversibel sein soll. Das möchte ich nicht.

Glaubst du, es reicht der Wille, es anders machen zu wollen? Andererseits: Was gebe es sonst noch außer den Willen?

Grübel, grübel
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Gerda
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Re: Prägung

Beitrag von Gerda »

Liebe Tarshaft,

Prägung ist etwas, das in der sehr frühen Kindheit passiert.

Das Verhalten, das du dir von deinem Stiefvater "abgeguckt" hast, ist nicht unveränderlich und in dich eingebrannt.

Ich stelle es mir aber schwierig vor, solche Fragen, die ja im weiteren Sinne die Identität behandeln, so über den Kopf zu klären. Mir kommt es so vor, als seien da tiefere Schichten beteiligt, in denen es ganz viel auch darum geht, dass du ganz wenig einverstanden bist damit, dass deine Mutter mit diesem Mann lebte und dass es da eine Aversion gibt gegen ihn, die du auch auf dich selbst ausweitest, sofern du Verhaltensweisen an dir entdeckst, die du mit ihm in Zusammenhang bringst.

Mir kommt es wichtig vor, dass du alles würdigst: du bist die leibliche Tochter deines Vaters und deiner Mutter. Der Stiefvater hat auch eine wichtige Rolle in deinem Leben gespielt, die du nicht so gewählt hast, aber er hatte auch einen Einfluss auf deine Entwicklung. Das Letzte ist nicht nachträglich zu revidieren. Aber du kannst dich jetzt seinem Einfluss entziehen, wenn du das möchtest und dich ganz auf dich selbst besinnen. Wer bist du?

Wichtig kommt mir auch vor, dass du jetzt, wo du erwachsen bist, ganz zu dir selbst kommst und auch darunter guckst, dahinter: was liegt hinter der Hektik, die ich mache? Wer bin ich hinter der Hektik? Welcher Anteil von mir wird hektisch? usw. Ist es wichtig, von wem du die Hektik abgeguckt hast? Ist es nicht wichtiger, dass du das, was in dir leben will, aufdeckst? Ist es nicht wichtiger, herauszubekommen, wie du dem Raum geben kannst?

Liebe Grüße
Gerda
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tarsshaft
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Re: Prägung

Beitrag von tarsshaft »

Hallo Gerda!

Danke für deine Zeilen, sie machen mich nachdenklich.

Was liegt hinter der Hektik? Ich weiß es nicht. Vielleicht die Angst, etwas zu verpassen. Nicht schnell genug zu sein. Nicht wahrhaft zu leben. Ich habe oft Angst, falsche Entscheidungen zu treffen, und überhaupt habe ich große Schwierigkeiten damit, überhaupt eine Entscheidung zu treffen. Ich möchte abwägen, am liebsten solange, bis jemand anders die Entscheidung fällt. Und während ich so abwäge treibt in meinem Innern die Hektik und Unruhe ihr Unwesen. Ich höre eine Stimme - vielleicht die meines Stiefvaters -, die sagt: Du brauchst viel zu lange. Bald wird es zu spät sein. Ein sehr prägendes Erlebnis, das mir in diesem Zusammenhang einfällt: Als ich in der 12. Klasse war, fing mein Stiefvater an, mich ständig zu fragen, was ich nach der Schule machen wollte. Ich musste in den Ferien Praktika machen, die er mitorganisierte, ich musste wissen, was ich studieren würde, und wo, und als ich in der 13. Klasse noch keine Zusage bei einer Universität hatte, wurde er ärgerlich und warf mir vor, meine Zukunft nicht gestalten zu wollen und nur vor mich hinzugammeln. Dabei hatte ich die Schule noch nicht einmal beendet und keinen Plan, was ich beruflich machen wollte. "Aber das musst du doch wissen! Du bist alt genug!"...Ich war gerade mal 17 Jahre und als gehorsames, angepasstes Kind wollte ich die Erwartungen wie immer erfüllen. Ich schaffte es, den Berufsweg, den mein Stiefvater für mich vorgesehen hatte, als meinen eigenen zu sehen und mich entsprechend zu organisieren. Ich lernte, dass ich "zu langsam" war für irgendwelche Entscheidungen. Vielleicht liegt es daran, dass ich sie heute dann lieber gleich andere treffen lasse...um nicht wieder diesem Druck ausgesetzt zu sein, der Hektik eben, die kam, sobald ich "zu langsam" war...ich bin nie in diesem Beruf glücklich geworden - in dem es zudem noch grundsätzlich "hektisch" zugeht, wir sprechen von Journalismus...bis heute suche ich nach Auswegen, suche ich nach Alternativen...und immer wieder habe ich das Gefühl, für einen alternativen Weg "zu langsam" zu sein bzw. hinterfrage diesen Weg bis ins Unendliche, ob er tatsächlich der Richtige ist...

Auch in der Partnerschaft behindert mich die Hektik. Das Nicht-warten-können. Ich setze meinen Partner unter Druck, will "schnell" zusammenziehen...will schnelle Entscheidungen...groteskerweise habe ich eine Fernbeziehung, bei der Geduld eine sehr wichtige Rolle spielt...oder vielleicht ist das gar nicht so grotesk...vielleicht eine unbewusste Entscheidung, um täglich mit der Hektik umgehen zu üben und sie schließlich zu überwinden...dazu passt, dass mein Partner wesentlich älter ist als ich, also von Haus aus "ruhiger" - und er sieht meinem Vater zum Verwechseln ähnlich...ich fühle mich beschützt bei ihm...in Sicherheit...seine reife Art, auch auf meine Zweifel und Hektik zu reagieren, tut mir gut und vielleicht lerne ich so irgendwann wieder, einem Menschen zu vertrauen, zu glauben, dass er tut, was er sagt...und dass ich geliebt werde um meiner Selbst Willen und nicht, weil ich gut finde und tue, was andere für mich aussuchen...

Welcher Anteil wird hektisch...welcher Anteil könnte das sein, liebe Gerda? Ich finde darauf keine Antwort. LG t
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Gerda
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Re: Prägung

Beitrag von Gerda »

Liebe Tarshaft,

zu deinem Post fällt mir spontan ein Rilke-Textauszug ein:

"Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein." (Rainer Maria Rilke, aus dem "Brief an Franz Xaver Kappus, 16. Juli 1903)

Puh, dein Stiefvater hat dich sehr vereinnahmt und seinen Vorstellungen von Leben einverleibt. Offenbar hast du es auch so erlebt, dass du Defizite hast, über die er dir hinweghilft, anstatt zu fühlen und zu sehen und auch von ihm unterstützt zu werden, dass du herausfindest, was "Dein Ur-Eigenes" ist, das, was ganz aus dir selbst kommt. Bei der Langsamkeit, die er an dir bemängelt, fällt mir ein Buch ein, http://www.amazon.de/Die-Entdeckung-Lan ... 3492207006Da ich selbst lange Zeit eine MInderwertigkeit aufgrund meiner Langsamkeit empfand, hat es mir sehr geholfen, dieses Buch zu lesen, weil darin klar wurde, dass der Protagonist nur deshalb so immens erfolgreich war, weil er so langsam war, ja, er hätte seine unglaubliche Entdeckung nie machen können, wäre er schnell gewesen.

Die Kehrseite all deiner Kümmernisse, die aus der Beziehung zu deinem Stiefvater aktuell herrühren, sehe ich darin, dass du jetzt erwachsen bist und jetzt offenbar deine Seele etwas freigeben möchte, nämlich das Wissen darum, was EIGENTLICH in dir strebt und wachsen möchte und sich zeigen möchte.

Weißt du, ich glaube, alle Menschen, die Abitur machen, sind so zugeballert von den Werten, die man in den letzten Schuljahren mitbekommt, die eigentlich, aus meiner Sicht zumindest, Unwerte sind. Ich sehe es so, dass man total entfremdet wird von sich selbst und dem, was WIRKLICH WICHTIG ist im Leben. Es wird ein immenses Wissen in das GEhirn von jungen Menschen hineingequtscht, das nicht viel zu tun hat mit dem, was einen lebenstüchtig macht oder was einem gar helfen könnte, herauszufinden, womit will ich mich in meinem Leben beruflich beschäftigen. Meine Tochter hat nach dem Abi eine Kopfgeburt gehabt und sich für Religionspädagogik eingeschrieben, ein Studium, das sie danach ausgewählt hat, was sie vielleicht noch interessieren könnte. Das Studium hat sie aber gar nicht angetreten, weil sie plötzlich einen Studienplatz bekam, den sie gar nicht wollte, wo sie sich einfach nur beworben hat, um eine Ablehnung zu bekommen, mit der sie dann Kindergeld kriegen würde, falls sie kein STudium antritt. Pharmazie. Nach zwei Tagen wußte sie, dass sie das auch nicht studieren wollte. Dann hat sie sich richtig Zeit genommen, gejobbt und erst mal tief in sich geschaut, was sie eigentlich möchte. und hat das schließlich auch gefunden. Jetzt hat sie ihren Bachlor gemacht und festgestellt, dass sie noch mehr lernen möchte, weil sie in ihrem Beruf nicht genügend verdienen wird.

Also, du möchtest herausfinden, was du noch anderes machen könntest im Leben? Ich habe mal ein Semonar gemacht, Coaching für Frauen, eine Woche. Darin ging es darum, sich mit den eigenen Ressourcen und eigenen Träumen zu beschäftigen. Würde dich so etwas interessieren?

Liebe Grüße
Gerda
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Bolz
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Re: Prägung

Beitrag von Bolz »

Hallo Tarshaft,

was ist so schlimm daran, etwas langsam zu machen, außer es stört Dich selbst ?

Ich bin selbst meistens ein hektischer und sehr effizienter Mensch und wenn andere mich warten lassen empfinde ich das als totale Überheblichkeit und Ausübung ihrer Macht über mich. Aber wenn Du Entscheidungen für Dich triffst ( und das kannst DU da jetzt ), dann kannst Du Dir doch solange Zeit lassen wie Du willst / brauchst. Vielleicht würde Dir dieses Vorhaben, dir einfach solange Zeit zu lassen wie DU willst schon den Druck nehmen und wenn Du dann doch mal hektisch bist es Dir richtig vorkommen, weil Du ja auch hektisch sein darfst wenn Du es willst.

Es hört sich eher an, als vergleichst Du Eigenschaften Deines Stiefvaters mit denen von Dir, die Du nicht leiden kannst. Da muss da Unbehagen bei herauskommen. Und selbst wenn Dein Stiefvater durch das Aufdrücken seiner Werte bei Dir den Eindruck hinterlassen hat ( oder Dir einimpfen wollte ), dass Du nach seiner Beurteilung nicht schnell/entscheidungsfreudig/wasauchimmer bis...who cares? Du lebst jetzt Dein Leben mit Deinen Entscheidungen und ein Rückbesinnen auf "was wäre wenn gewesen?" hindert Dich nur.

Außerdem bist Du vielleicht auch nicht die einzige, die Kompromisse machen musste und die eigenen Lebenswünsche nicht ganz so ausleben konnte wie sie wollte ? Dein Stiefvater musste für Dich sicher auch einige Kompromisse machen, Geduld haben, Zeit und Geld in Dich investieren, einen Teil seines Lebens mit Dir teilen. Vielleicht hat er sich das auch nicht immer so vorgestellt. Und wenn Du mit Deinem leiblichen Vater aufgewachsen wäres, da wären siche auch ne Menge Dinge gewesen, die nicht super waren.

Weißt Du, ich bin eine sogenannte "Zweitfrau", mein Partner hat eine Tochter. Ich wollte nie Kinder und bin auch bin auch nicht überglücklich darüber das sie da ist. Aber es ist sein Kind und ich habe das alles vorher gewußt. Sie liebt mich und ist gern bei mir, aber ich bin nicht die Mutter. Ich lebe immer mit dem Gedanken, "es ist nicht mein Kind", die Mutter kann mir jederzeit Schwierigkeiten machen, was sie auch oft genug tut. Vielleicht sieht mich die Kleine irgendwann mit dem Hintern nicht mehr an, so a la "Du bist nicht meine Mutter". Das Kind wird auch überwiegend von meinem Mann und seiner Ex erzogen, nicht von mir, daher ist sie auch oft nicht so, wie ich mir ein Kind wünschen würde. Das ist auch für mich schwer und sicher fragt sie sich wenn sie erwachsen ist, warum ich das ein oder andere an ihr nicht mag. Was ich damit sagen will, ist dass es für einen Stiefelternteil auch sehr schwer sein kann und vielleicht versuchst Du mal Deinen Stiefvater aus dieser Brille zu sehen. Er hat sich auch nicht immer alles aussuchen können, aber es hört sich an, als hätte er sehr viel Einfluß auf Dich genommen, heißt für mich, er hat sich auch sehr viel um Dich gekümmert. Das hat er sicher nicht aus Desinteresse an Dir getan. Auch wenn es nicht immer das Beste für Dich war, aber das treffen leibliche Eltern beileibe auch nicht immer...

Lg
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tarsshaft
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Re: Prägung

Beitrag von tarsshaft »

Ein wunderbares Zitat, Gerda, es gefällt mir. Was ich beruflich möchte, ich weiß nicht, ob es darauf wirklich eine Antwort gibt. Seminare und Kurse habe ich sehr viele besucht, ebenso vielfältig sind meine Praktikanachweise, Fortbildungszertifikate und Abschlüsse. Vielleicht geht es gar nicht um das "was"...vielleicht geht es vielmehr darum, dass ich mich selbst finden soll...gerade träume ich mit meinem Freund davon, dass wir gemeinsam auswandern und uns ein schönes Zuhause schaffen...wo immer dieses Zuhause dann sein wird, ich werde auch dort mir einen Job suchen..und weißt du was? Es ist mir ziemlich unwichtig, was das dann sein wird...ich kann mir viel vorstellen, wenn mein häusliches Umfeld stimmt...

das, was meine Seele nun freigeben möchte, ist glaube ich Authentizität...und die fühlt sich "weich" bei mir an...ich fühle mich weich und verletzlich, zart und liebevoll...das "Harte" habe ich mir als Schutz antrainiert, um gegen Hektik, Stiefvater und anderes zu bestehen...aber mein Wesen ist etwas anderes...das möchte ich leben...

danke für deine Anteilnahme, lg t
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tarsshaft
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Re: Prägung

Beitrag von tarsshaft »

Natürlich hat auch mein Stiefvater Kompromisse eingehen müssen, als er meine Mutter zu seiner neuen Partnerin machte. Er wusste von Anfang an, dass sie zwei kleine Kinder hat. Nur war mein Stiefvater damals ein erwachsener Mann, der sich bewusst trotz fremder Kinder für dieses neue Leben entschieden hat. Ich war ein Kind, das nicht gefragt wurde und dem gar nicht klar war, was da eigentlich gerade alles passierte. Schon gar nicht konnte ich die Tragweite des Geschehens einschätzen...Ich habe mich nicht bewusst für dieses neue Leben entschieden, ich wurde nicht gefragt...es hätte mir sehr geholfen, wenn mir mein Stiefvater zum Beispiel erklärt hätte, dass er nun mit mir und meinem Bruder unter einem Dach leben würde...ok, Bolz, es klingt so, als wäre zwischen dir und deiner Stieftochter eine Art Graben, den du aber - so liest es sich für mich - natürlich findest bzw. akzeptierst...sicher kann man keine Zweitfrau oder keinen Zweitmann dazu anhalten, gar zwingen, jemand anders Kind zu lieben und zu begleiten...aber das Kind ist gar nicht erst gefragt worden...von ihm wird erwartet, dass es sich arrangiert...lg t
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Bolz
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Re: Prägung

Beitrag von Bolz »

Guten Morgen,

ja klar war er ein Erwachsener, der sich auf etwas eingelassen hat und Du ein Kind. Aber wem nützen diese Gedanken ? Du hattest wie er 1000 fach die Gelegenheit Dein Verfältnis zu ihm zu gestalten wie er zu Dir. Und auch wenn Du als Kind bestimmt ein Anrecht darauf hattest mit besonderer nachsicht behandelt zu werden gegenüber einem Erwachsenen, auch er hat ein Recht auf ein erfülltes und glückliches Leben. Er hat auch ein Recht darauf sein Leben zu versuchen so zu gestalten, wie es ihm gefällt. Nur weil er eine Frau mit Kind zur Partnerin genommen hat heißt das doch nicht, er müsste die kompletten nächsten Jahre im Voraus "gewußt haben, was ihn erwartet" und zu allen Dingen ja und Amen sagen. Und außerdem kann sich keiner aussuchen in wen er sich verliebt, Du sicher auch nicht.

Was ich sagen will ist, dass Du es Dir künstlich schwer machst mit dieser "was wäre wenn" Frage an Dich selbst und die Abneigung Dinge angenommen zu haben, die ein Stiefvater Dir vielleicht beigebracht hat. Du kennst doch sicher noch andere Leute die Du nicht aus vollem Herzen liebst und deren Ansichten / Verhalten etc. irgendetwas hatten, was Du vielleicht übernommen hast.

Für mich hört sich das so an, als suchst Du auf biegen und brechen einen Sündenbock und da kommt er grade recht. Das schadet Dir aber in erster Linie nur selbst. Wenn Dir etwas nicht gefällt an Dir, dann ändere es. Nicht in der nächsten Sekunde, sondern im Laufe der Zeit. Je mehr es Dich stört, desto mehr wirst Du Dich wohl letztendlich anstrengen um es zu ändern. Aber da musst Du selbst den Hintern hoch bekommen, auf irgendeinen anderen schimpfen gibt Dir nur einen Grund in der Situation zu verharren und nichts zu tun.

Und außerdem: wenn Du so viel Schlechtes von ihm übernommen hast, was ist dann mit Deinen guten Seiten ? Sind die dann nicht auch von ihm ?

Gruß
Bolz
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Gerda
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Re: Prägung

Beitrag von Gerda »

Liebe Tarshaft,

ich verstehe sehr gut, dass es als Kind schlimme Gefühle bedeutet, dass die Familie auseinandergerissen wird und dass dann noch ein fremder Mann in die Familie eindringt. Es muss sehr schlimm sein, das zu erleben, wie sich jemand völlig Fremdes in der Intimität mit der Mutter einen Raum nimmt. ES muss sehr weh tun, sehr viel Angst machen, sehr wütend machen. Und mit all dem ist man alleine, weil die "Großen" so mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie nicht mitbekommen, was in den Kindern passiert. Ich stelle mir das als eine schreckliche Einsamkeit vor. Vermutlich gibt es keinen anderen Ausweg, als sich irgendwie damit zu arrangieren und die eigenen Gefühle ganz tief herunterzuschlucken, um es irgendwie aushalten zu können.

Hinzu kommt ja, wenn ich das richtig verstehe, dass deine Mutter nie glücklich war mit deinem Stiefvater, dass sie sich bei dir ausgeheult hat über ihn, auch als du noch klein warst und dass du dadurch immer weiter gehofft hast, es kommt die ursprüngliche Situation wieder - dein Vater kehrt zurück und ihr seid wieder eine Familie. Auch das muss enorm belastend gewesen sein, auf allen Ebenen. Ich könnte es gut verstehen, wenn du deinen Stiefvater über all die Jahre einfach nur weghaben wolltest, weil er der Störenfried zu sein schien, aus kindlicher Sicht. Aber: Ist das nicht vor allem ein emotionaler Mißbrauch deiner Mutter gewesen, die dich emotional unterversorgt liess, die dich darüber hinaus noch belastete mit ihren Eheproblemen? Vielleicht führt das jetzt auch ganz weg von dem eigentlichen Thema. Dass du gerne dein Verhalten ändern möchtest und dich fragst, ob das überhaupt geht, oder ob das Verhalten deines Stiefvaters "in dich eingebrannt" ist.

Ich glaube, Hektik produzieren Menschen, die sich selbst von anderen unangenehmen Gefühlen wegbringen wollen. Bei mir ist es so - ich bin ein sehr sehr ruhiger Mensch - aber wenn ich hektisch werde, dann, weil ich Ängste in mir fühle. Wenn ich hektisch werde, dann weil ich angespannt bin und mich mit Hektik ein Stück von mir selbst wegbringen kann, ich fühle dann z. B. die Ängste nicht. Was ja fatal ist, denn wenn ich die Ängste nicht "wegmachen" würde mit Hektik bzw. meine Wahrnehmung davon wegmachen würde, dann könnte ich mich viel besser um meine Ängste und das, was vielleicht an kindlichen Gefühlen dahinter steht und versorgt weerden müßte, kümmern.

Das sind so meine Überlegungen am Rande :)

Liebe Grüße
Gerda
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Re: Prägung

Beitrag von tarsshaft »

Hallo Bolz,

danke, dass du noch mal geschrieben hast. Es steckt sicher viel Wahres in dem, was du schreibst. Dein für meinen Geschmack etwas rauher Tonfall macht es mir schwer, das auch alles so anzunehmen.

Du hast Recht. Mein Stiefvater war und ist ein willkommener Sündenbock für mich, für meinen Bruder, für meine Mutter und für viele andere. Sogar für seinen eigenen Sohn, der neulich zu meiner Mutter sagte, als er zu Besuch bei seinem Vater und meiner Mutter war: "Ich bin froh, dass ich nicht mit meinem Vater aufgewachsen bin. Deine Kinder, die dies tun mussten, tun mir leid."

Sicher, du kennst meinen Stiefvater überhaupt nicht und als "Zweitfrau", wie du dich genannt hast, verstehst du andere Zweifrauen und -männer sicher besser als ich, die ich die Sicht eines Scheidungskindes hatte, habe und haben werde. Wahrscheinlich könnten wir beide nur dann uns wirklich auseinandersetzen, wenn du ihn kennen würdest und dir aufgrund deiner eigenen Wahrnehmung eine eigene Meinung zu diesem Mann hättest bilden können.

Die "Was wäre wenn"-Frage ist sicher unsinnig, da gebe ich dir Recht. Es tut gut, dass du mich wieder daran erinnert hast.

lg t
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Re: Prägung

Beitrag von tarsshaft »

Hallo Gerda!

Hut ab! Du hast meine Gefühle zu 100 % richtig verstanden und beschrieben. Dein Text spricht mir aus der Seele. Genauso habe ich es gefühlt und fühle es noch.

Es tut unendlich gut, so viel Anteilnahme und Verständnis zu bekommen von jemandem, der neutral ist. Du hilfst mir beziehungsweise meiner Kinderseele sehr damit. Ich wünschte, noch mehr Stimmen dieser Art zu bekommen. Der Trost hilft meiner verletzten Kinderseele zu heilen, und wenn ich deine Zeilen lese, dann spüre ich, wie mein inneres Kind dankbar aufatmet und sich entspannt zurückzieht. DANKE!

Ich glaube auch, dass Hektik viel mit Angst zu tun hat. Versagensangst, die Angst, eine Aufgabe nicht schnell genug oder falsch zu erledigen. Ich war ein sehr gehorsames Kind und ein sehr gehorsamer Teenager, versuchte, es allen Recht zu machen. Deshalb hörte ich mir die Klagen meiner Mutter an (das IST seelischer Missbrauch), in der Hoffnung, dass a) sie wieder zu meinem Vater zurückkehrte oder b) sie sich wenigstens einen anderen Mann suchte, über den sie sich nicht dauernd bei mir beschwerte (DAS TUT SIE HEUTE NOCH!! Es nervt noch immer, aber nach über 25 Jahren gehört das zu unseren Gesprächen wie der Small-Talk übers Wetter oder der Satz "Wie gehts?" - wie kann man so eine Beziehung führen...) bzw. c) , weil ich hoffte, so Liebe und Anerkennung von ihr zu bekommen. Bedingungslose Mutterliebe, das gab es nicht. Erst musste ich etwas leisten, und wenn es nur zuhören war. Neulich weinte sie, als sie sah, wie liebevoll eine meiner Freundinnen mit ihrem kleinen Sohn umging. Sie sagte vor sich hin: "Ach, ich war so oft so böse zu euch..."

Auch meinem Stiefvater versuchte ich es Recht zu machen, vor allem in Sachen Berufswahl, weil ich mir so die ersehnte Anerkennung erhoffte. Da diese trotz der Tatsache, dass ich beruflich tat, was er wollte, ausblieb, hinterließ das eine Ohnmacht und ohnmächtige Wut bei mir, denn ich hatte ja schließlich alles getan und doch nicht das bekommen, was ich so sehr brauchte: Liebe und Anerkennung.

Dein Stichwort "Angst" hat mich der Antwort näher gebracht. Das tut gut. Nochmal Danke! Lg t
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Re: Prägung

Beitrag von Gerda »

Liebe Tarshaft,

danke für deine Rückmeldung, dass du dich verstanden fühlst von mir. Es tut mir gut, dass ich deine verletzte Kinderseele berühren darf und du auch etwas Heilung spürst. Ich merke, je länger ich hier schreibe, wie wenig wir Eltern wissen von unseren Kindern während der Scheidung. und die wenigsten Scheidungsratgeber sprechen davon deutliche Worte, wie schmerzhaft die Scheidung oftmals für die Kinder ist.

Weißt du, ich bin ja genauso eine Scheidungsmutter, wie deine, habe auch ganz viel Mist gemacht während der Scheidung mit meinen Kindern, weil ich es nicht besser wußte, weil ich gar nicht wußte, was ich tat. Auch, weil es noch gar keine wirkliche "Scheidungskultur" in unserer Kultur gibt. Die prägen Menschen, wie du, vielleicht. Meine wichtigste Ressource, mich in meine Kinder einfühlen zu können, was sie emotional brauchen, versiegte in der Zeit der Scheidung und auch danach in manchen Teilen völlig, während der gesamten Kindheit meiner Kinder. Ich war selbst total verunsichert mit mir und meinem Leben. Ich fühlte mich unglaublich verletzt von meinem Exmann, der mich mißhandelt hatte und nach der Ehe nichts ausließ, mich zu verfolgen mit Gerichtprozessen. Ich hatte nicht ein Leben gewählt, alleinerziehend von drei Kindern zu sein. Ich konnte all das, was ich vorher konnte und was ich auch jetzt wieder kann, nicht.

Deshalb schreibe ich hier. Weil ich über die Jahre des Schreibens mit Scheidungskindern, so wie mit dir, lerne, wie es in ihnen aussieht. Es ist mir ein wirkliches Anliegen, das zu verstehen, weil ich es damals nicht verstand. Dadurch, dass ich mich in dich einfühlen darf und von dir das Feedback bekomme, dass du dich verstanden fühlst, lerne ich auch etwas über meine Kinder. Sie sind in deinem Alter und jünger - 35, 34, und 25 Jahre. Das Lernen tut mir sehr gut, erlöst mich irgendwie von dem Schweren, was ich da in den KOntakt mit ihnen getragen habe und demgegenüber ich mich so hilflos gefühlt habe. Das mal nur am Rande zu meinem Hintergrund, auf dem ich dir schreibe.

Deinen Wunsch, dass du noch mehr Rückmeldungen bekommst, in denen du dich verstanden und gesehen fühlst, kann ich sehr gut verstehen. Vor allem, da du jemand bist, die in ihrer Kindheit ständig nicht gesehen wurde, nicht verstanden wurde, übersehen wurde und die immer ihre eigenen Bedürfnisse auf Kosten der anderen zurückstecken musste. Meistens werden die Kinder den Bedrüfnissen der Partner und Elternteile unterworfen und das ist total verletzend. Wenn man sich dann irgendwann, so wie du jetzt, mit diesen Dingen beschäftigt, möchte man nicht noch mal zu hören bekommen, was die Bedürfnisse der anderen waren. Man möchte endlich mal gesehen werden mit den kindlichen Bedürfnissen, die man damals hatte und für die sich niemand interessierte, dem Schmerz, der Verzweiflung, der Ohnmacht, die da waren und mit denen man damals so alleine war.

Zur Beziehung zu deiner Mutter geht mir noch etwas durch den Kopf. Darf ich das mal schreiben? Wie wäre es denn eigentlich, wenn du deiner Mutter gegenüber eine völlig neue Beziehung aufbauen würdest? Du bist jetzt erwachsen und kannst ihrem infantilen Umgang mit dir doch etwas entgegen setzen. Musst du immer noch die brave Tochter sein, die es allen recht macht?

Meine Tochter wird jetzt 25. Sie sagt mir immer wieder Dinge, die sie nicht möchte. Sie hat mir auch, als sie 16 war, schon gesagt, dass sie nicht möchte, dass ich in ihrer Gegenwart weine, weil sie mich dann immer trösten muss und das sei verkehrt herum. Eltern müssen Kinder trösten, nicht umgekehrt. Das hätte ich zwar eigentlich selbst wissen müssen. Aber es war gut, dass sie es mir gesagt hat. Das hat mir Orientierung gegeben. Die hätte ich zwar eigentlich geben müssen. Aber wenigstens war sie da. Ich wußte sofort, dass das richtig ist, was sie mir vorwarf und habe mich auch sehr zurückgehalten und mich sehr zusammen genommen. Es war schmerzhaft, dass sie sich abgrenzte, aber es half mir auch, mich auf mich selbst zu besinnen und mir Unterstützung in Therapie zu holen. Ich fühle es als große Chance, dass sie mir sagt, was sie stört und bin ihr dafür sehr dankbar. "Kinder sind die Chance ihrer Eltern" hat mir mal eine wichtige Person in meinem Elteernlernenprozess gesagt. Sie lassen uns Eltern lernen.

Lernen, das wäre das, was du deiner Mutter damit ermöglichen würdest, wenn du nicht mehr die brave Tochter bist, die es allen recht macht.

Wenn das an dir vorbeigeht, dann bitte ab damit in die Tonne :)

Wie ist denn heute dein Lebensgefühl, was Liebe und Anerkennung angeht? Fühlst du dich da von anderen anerkannt für das, was du tust? Fühlst du dich geliebt? du musst nicht antworten, nur, wenn es
für dich passt.
Liebe Grüße
Gerda
"Unser wahres Zuhause ist der gegenwärtige Augenblick. Wenn wir wirklich im gegenwärtigen Augenblick leben, verschwinden unsere Sorgen und Nöte, und wir entdecken das Leben mit all seinen Wundern.“

Sei selbst die Veränderung, die du dir wünschst.
tarsshaft
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Re: Prägung

Beitrag von tarsshaft »

Liebe Gerda!

Meine Beziehung zu meiner Mutter hat sich schon verändert. Ich bin nicht mehr die gehorsame Tochter. Schon lange nicht mehr. Ich habe sie viele Jahre bewusst provoziert, ihr bewusst weh getan, Dinge gesagt und erzählt, von denen ich wusste, sie würden sie zum Weinen bringen...vielleicht wollte ich ihr tatsächlich nur weh tun und sagen können: siehst du, so weh hast du mir auch getan...und damals konnte ich mich nicht wehren...mittlerweile unterlasse ich das...auch, weil ich gemerkt habe, dass sie sich selbst jeden Tag aufs Neue weh tut...sie nannte das einmal "meine Buße"...wem das nützen soll, weiß sie glaub ich selbst nicht...

Weißt du, Gerda, meine Mutter ist Anfang 60...schon vor 10 Jahren sagte sie, sie könne an ihrer Situation nichts ändern, es sei zu spät, sie könne sich nicht trennen, weil sie dann ohne finanzielle Mittel da stünde - auf meine Nachfrage, ob sie sich denn mal erkundigt habe, wieviel Geld ihr denn zur Verfügung stehen würde, reagierte sie verärgert und verbot mir das Wort. Sie ist gefangen in ihren Schuldgefühlen uns Kindern gegenüber. Mein Bruder und ich haben ihr schon oft gesagt, dass sie sich endlich selbst verzeihen soll und wir das Thema nicht mehr aktiv leben wollen, aber sie WILL leiden. Sie ist gefangen in ihren negativen Gefühlen (sie findet bei jedem Thema etwas, das schief könnte). Sie ist gefangen in ihrer Abneigung gegenüber ihrem Mann, mit dem sie die selbe Adresse teilt, viel mehr ist es nicht. Getrennte Schlafzimmer sind selbstverständlich und wenn er sie küsst, dann wischt sie sich meist über den Mund.

So vieles, was SIE aufzuarbeiten hätte. Sie macht gerade wieder eine Therapie, die ihr gut tut. Manchmal, wenn sie wieder mit dem Thema anfängt, dann sag ich: "Mama, erzähls nicht mir, erzähls deiner Therapeutin." Manchmal hab ich Lust zu lästern und zieh ein bissl mit...Ich schaffe es, mich zu distanzieren...es sind ihre Themen und Probleme und nicht mehr automatisch auch meine. Ihre Gesundheit schreit nun immer stärker nach Authentizität und Auflösung dieser permanenten Stresssituation, in der sie lebt. Sie hatte vor ein paar Monaten einen Schlaganfall, nun ist eine beginnende Diabetis dazugekommen. Aber sie versteht die Zeichen nicht. Ich helfe ihr, indem ich ihr gesundheitliche Tipps gebe, die mir mein Freund gibt (er ist Arzt), aber weiter lasse ich es nicht an mich heran. Ich finde es schade, dass sie so lebt...so weggeschmissen, dieses Leben...Ich finde es schade, aber nicht mehr. Sie erzählt, dass mein Stiefvater trotz seiner ungesunden Lebensweise (sehr fette Ernährung z.B.) keine Probleme hat so wie sie, mit dem erhöhten Blutzucker. Sie sagt das und ärgert sich, dass es ihm gut geht....sie versteht nicht, dass er der einzige der beiden ist, der authentisch ist...sie spielt nur Theater...

Ich habe noch die Chance anzukommen. Ich lebe authentisch. Ich habe viel ausgehalten und durchgemacht. Aber ich bin noch da. Ich bin gesund, bin nicht "abgerutscht" wie z.B. der Sohn der 2. Frau meines Vater (ehem. Drogenabhängiger, 40 Jahre, geschätzte Lebenserwartung noch ein paar Monate wegen Drogenmissbrauch und folglich nach und nach Organversagen). Ich war stark genug. Sicher, ich habe Narben davongetragen. Tiefe Narben. Aber ich bin noch da. Mein Partner, so glaube ich, liebt mich bedingungslos. Um meiner Selbst Willen. Ich kann zickig sein, grundlos eifersüchtig, kann toben, ihn anklagen, er wird mich trotzdem immer wieder in den Arm nehmen. So habe ich es bis jetzt erlebt. Ein gutes Jahr sind wir zusammen. Noch traue ich dem Frieden nicht immer. Er liebt mich trotzdem??!! Er ruft am nächsten Tag trotzdem an??!! Ist genauso liebevoll wie immer??!! So war es bis jetzt...vielleicht schaffe ich es mit ihm....noch habe ich die Gelegenheit dazu...das fühlt sich wunderbar an...lg tarsshaft
Das Heute leben, das Kommende erwarten, das Vergangene nutzen.
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